Denk-Mahl

Das Blog für Freunde des eigenen Verstandes

Die Würde des Menschen beginnt mit dem Kochtopf

Michael Pollan: Kochen. Eine Naturgeschichte der Transformation. Übersetzt v. Katja Hald, Enrico Heinemann, Renate Weitbrecht, Verlag Antje Kunstmann, München 2014, 524 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-88897-973-6, € 29,95 (als E-Book € 23,99, ISBN 978-3-88897-989-7) – erhältlich beim inhabergeführten Buchhandel Ihres Vertrauens

Wer sich nicht wehrt, kommt an den Herd. Doch „essen muss der Mensch“, wie Tatort-Kommissar Batic einmal lakonisch feststellte – als er am Schreibtisch nebenbei eine Pizza aus dem Pappkarton vertilgte – von Essen, von Kochen gar kann ja da überhaupt keine Rede sein. Womit wir beim Thema wären. Wie sehr war die heiß ersehnte Befreiung der Frau aus dem Bermuda-Dreieck von Kinder – Küche – Kirche mit der Hoffnung verbunden, den Hunger von maulenden Sprösslingen und nölenden Ehegatten ohne Mühe stillen zu können. Nie mehr statt Dank nur schlechte Laune zu ernten, weil wieder mal das Schnitzel in der Pfanne angebrannt war, die Nudeln zerkocht oder die Präferenzen der Familienbande nicht gebührend beachtet wurden (Vater: Fleisch, Kinder: Spaghetti mit Tomatensauce – beides täglich, versteht sich).

Auf der anderen Seite stehen die mahnenden Mediziner und ein Heer von Ernährungsberaterinnen, unterstützt von (halb-)staatlichen sowie privaten Institutionen und Gremien, die unentwegt und unverdrossen eine „ausgewogene und abwechslungsreiche Ernährung“ fordern, die frau gar nicht mehr gewährleisten kann. Inzwischen zwar vom Herd befreit, aber durch den Job gestresst, sichert sie durch das Zweiteinkommen nicht nur die pünktliche Mietzahlung, sondern auch den Zweiturlaub, die Wünsche des Nachwuchses, nicht nur bei Klamotten, sondern auch in puncto Unterhaltungselektronik mit der richtigen, aktuell angesagten Marke stets up to date zu sein und auch sonstige Konsum-Sonderwünsche zu erfüllen. Und so spielen diese unrealistischen Ratschläge dem eigentlichen Gewinner dieser „Befreiung“ in die Hände.

Die Lebensmittelindustrie nämlich nahm ihre Chance wahr, die in diesem Dilemma lag, und wandelte es flugs in einen goldenen Käfig für den umworbenen „Verbraucher“ um: „Lasst uns mal machen. Wir können das eh besser – und bei uns kann jeder nach seiner Façon satt und selig werden. Kostet kaum was. Und hygienischer und gesünder ist es ohnehin.“ Und nie mehr wird Mutti hören müssen: „Ich mag das nicht“. Sie hat ja die Lieblingsspeisen ihrer Schrazen und ihres Ehegespons‘ portioniert fix und fertig verpackt aus den Regalen des des Supermarkts mitgebracht, die dank Fürsorge und Umsichtigkeit des Filialleiters und seiner Mitarbeiter von Köstlichkeiten aus aller Herren Länder – zumindest laut Verpackung – überquellen. Dass es in Wirklichkeit die Manager und Chef-Einkäufer von lediglich einer Handvoll Lebensmittelkonzernen sind, die ihren und den Speisezettel der Konsumenten bestimmen, muss sie ja nicht beunruhigen. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß – und die Küche bleibt weiterhin kalt. Kann ja niemand gezwungen werden, etwas genauer hinzuschauen. Und aus Gold darf der Käfig für den Konsumenten schon sein – bei den satten Gewinnen, die diese Konzerne trotz niedrigster Lebensmittelpreise und -margen einstreichen – wer da wohl der letzte ist, den die Hunde beißen …?

Nur wenige Jahrzehnte später steht man vor den Trümmern dieser Heilsversprechen. Und fragt sich, wie es kommen konnte, dass wir, obwohl von der Fron der täglichen Nahrungssuche und -zubereitung entbunden und trotz vermeintlichem Überfluss nicht glücklicher, gesünder und freier sind. Sondern gestresster und kränker. Könnte es sein, dass wir mit dem Verzicht auf Kochen, auf die eigene Zubereitung der Mahlzeiten doch mehr aufgegeben haben als nur eine mühevolle Tätigkeit? Die wir, seien wir ehrlich, doch nur gegen mindestens ebenso mühevolle, wenn auch langweiligere eingetauscht haben? Könnte es sein, dass wir damit nicht nur unsere Freiheit, sondern auch ein Stück weit unsere Würde eingebüßt haben, weil wir uns auf die Rolle des kritik- und ahnungslosen Konsumenten haben reduzieren lassen? Dass uns dabei ein gehöriges Stück Souveränität über unser eigenes Leben abhanden gekommen ist?

Michael Pollan, engagierter Verteidiger der Esskultur, hat sein neuestes Opus „Kochen. Eine Naturgeschichte der Transformation“ nicht zuletzt aus diesem Grund verfasst. Bereits im Vorwort befasst er sich mit der Frage „Warum kochen?“ und gesteht, dass ihn neben privaten Aspekten wie Gesundheit und Wohlbefinden, aber auch Familienzusammenhalt vor allem politische, zudem philosophische und wissenschaftliche Fragestellungen zu diesem Buch motiviert haben.

Dabei widmet er den klassischen vier Elementen Feuer, Wasser, Luft, Erde jeweils ein umfangreiches Kapitel und stellt ein Verfahren in den Mittelpunkt: Feuer – natürlich Grillen, das archaischste überhaupt anhand des vor allem in den US-Südstaaten beliebten Barbecue, des Grillens eines ganzen Schweins, Wasser: das eigentliche Kochen, Schmoren, Dünsten, das die Erfindung des Kochtopfs voraussetzt. Im„Luft“-Kapitel spielen die Prozesse beim Backen von Sauerteigbroten die zentrale Rolle. Und das „kalte Feuer der Gärung“, dem Erdelement zugeordnet, widmet sich der Fermentation von Lebensmitteln durch Bakterien und Hefen, also etwa der Milchsäuregärung, der Käseherstellung, aber auch der alkoholischen Gärung bzw. dem Brauprozess. Uralte Kulturtechniken, mittels derer der Mensch seit zehntausenden von Jahren seine Nahrung herstellte und genießbar machte, spätestens, seit er die Vorzüge des Feuers entdeckt und auch Methoden der Haltbarmachung und Vorratshaltung erfunden hatte. Und dank derer er sich zum Homo sapiens entwickeln konnte. Denn letztlich sind diese Gartechniken nichts anderes als die Verkürzung des Verdauungsprozesses, der nun nicht mehr halbe oder ganze Tage in Anspruch nahm. Die frei gewordene Zeit konnte der Mensch daher der Kultivierung seiner Umwelt und seiner eigenen Zivilisierung widmen.

Pollans wie immer leicht und unterhaltsam geschriebener Essay berichtet von den persönlichen Erfahrungen am heimischen Herd, aber auch von den Gesprächen mit und Praktika bei versierten Fachleuten. Fast ausschließlich sind es Autodidakten: der surfende Bäcker, der sich mit seinen Sauerteigbroten einen Namen machte und dessen Brotrezept sich über fast dreißig Druckseiten erstreckt; der überzeugte, „Fermento“ genannte, Einmach- und Gärungsfreak; die käsende Nonne, die ihre Kunst von einer Mitschwester aus Frankreich erlernte und sich – als promovierte Mikrobiologin – mit der Gesundheitsbehörde anlegte, um ihren Rohmilchkäse nach ihrer Façon herstellen zu dürfen – mit Geräten (Löffel, Bottich, Eimer, Reiferegale) aus Holz statt aus sterilem Edelstahl zum Beispiel.

Die wenigsten Leserinnen und Leser des Buchs werden bisher über das Grillen und Kochen hinausgelangt sein; selbst Brotbacken gehört ja nicht mehr zum regelmäßigen Produktionsrepertoire in den Privathaushalten, von Käsen, Brauen oder eigener Sauerkrautherstellung ganz zu schweigen. Das alles verlangt eine intensive Beschäftigung mit den Lebensmitteln und Verarbeitungsprozessen. Doch es ist ermutigend, dass zwar nicht jeder Versuch auf Anhieb gelingt, aber letztlich jeder Herstellungsprozess kein Hexenwerk ist. Für aufgeweckte Zeitgenossen, die der industriellen Lebensmittelproduktion den Rücken kehren und in der Selbstversorgung eine Rückgewinnung autonomer Lebensführung sehen, sind die vier exemplarischen Rezepte am Ende des Buches eine echte Überlebenshilfe. Und insgesamt ist Pollans Essay ein überfälliger Beitrag, die Degenerierung des Homo sapiens zum kritiklosen Konsumtrottel und Allesfresser aufzuhalten und den Menschen vor seiner Selbstaufgabe als Kulturwesen zu bewahren.

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