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Guten Appetit

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Ein paar Anmerkungen zum Thema „Bin ich, was ich esse“ im Philosophie-Magazin 4/2015 – Fortsetzung von „Ich verzehre mich nach mir“

Hunger und Sexualität – gleichwertige Bedürfnisse?

Werfen wir noch einmal einen Blick auf das Editorial von Wolfram Eilenberger und fragen nach den Voraussetzungen? Guter Sex habe „Gabecharakter“ schreibt Eilenberger. Der Akt des Essens sei dagegen immer nichtkonsensuell, unilateral, gewaltbehaftet. Damit wird zunächst behauptet, Sexualität und Ernährung seien gleichwertige, gleichartige Bedürfnisse. Doch ist dem tatsächlich so? Muss sich das Nachdenken über beide – oder nur über eines von beiden – nicht vielmehr daran orientieren, was jedem für sich eigen ist? Schon darin liegt der erste Irrtum, hervorgerufen durch eine Begriffsunschärfe. Hat Sex in der beschriebenen Form (lustvoll, gut) nicht vielmehr mit Hingabe zu tun? Ist er nicht – im Gegensatz zum Essen – ein „interpersonaler Akt“? Was auf den ersten Blick wie begriffliche Haarspalterei aussieht, erweist sich bei näherem Hinsehen als ein gewaltiger Unterschied: Hingabe besteht im Überfließen aus Fülle, das unterscheidet sie z. B. von der Prostitution, die eher eine Preisgabe – vielfach auch aus Not – darstellt. Und vor allem geht es Eilenberger ja um guten Sex, nicht um Sex schlechthin. Natürlich steht dem auch ein Begehren gegenüber – aber auch dieses Begehren ist ein anderes als das nach Nahrung. Es ist das Begehren nach einer Person. Hunger als Begehren ist ein Begehren aus Mangel, der aufgrund der Selbstsorge behoben werden muss. In der Regel hat, wer hungrig ist – und vielmehr noch, wer Hunger leidet – zunächst kein sexuelles Verlangen, er hat andere Sorgen, Sorge um sich, um seine Selbsterhaltung. Die Stillung des Hungers ist – das wusste schon Epikur – elementarer als die Erfüllung des sexuellen Verlangens. Epikur hatte die Bedürfnisse nach „natürlich und notwendig“, „natürlich und nicht notwendig“ und „weder natürlich noch notwendig“ unterschieden und festgestellt: „Die Stimme des Fleisches spricht: Nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren. Wer aber all dies erlangt oder hoffen darf, es beständig zu erhalten, der kann sich an Glückseligkeit selbst mit Zeus messen.“ Und die Sorge kann sich auch auf andere übertragen und wird dann zur Fürsorge, z. B. für Angehörige, Kinder, Partner, Eltern und im Weiteren Hilfebedürftigen, Mitmenschen – und für andere Mitgeschöpfe doch wohl erst, wenn sie zur Selbsterhaltung und der Erhaltung der eigenen Art beitragen. Man kann folglich zuspitzen: Wird nicht vorher für das Subjekt – und andere Mit-Subjekte – Sorge getragen, sein Bedürfnis nach dem Fortbestand seiner Existenz befriedigt,, ist auch Hingabe nicht möglich, folglich auch keine Erfüllung.

Mit dem Salat und der Tomate auf Du und Du?

Wie ist das beim Essen? Selbstverständlich bedarf es nicht der Einwilligung dessen, was verzehrt werden soll, um es zu verzehren. Es sei denn, man nähme das Sprichwort, dass Liebe durch den Magen geht, wörtlich. Ich schreibe so leichthin „selbstverständlich“– aber ist das nicht genau das Problem, das Eilenberger hat? Der, wie Harald Lemke es genannt hat, „nutritive Schuldzusammenhang“? Dann wäre also – anders als inzwischen beim Sex – Essen von vornherein mit dem Schuldbegriff verknüpft? Auch das ist fraglich (sieht man von der jahrhundertealten und inzwischen wohl (im Westen) weitgehend überwundenen Verteufelung des Sexuellen ab; dafür scheint die Ernährung diese Stelle eingenommen zu haben) – und auch die Geschichte mit der Frucht vom Baum der Erkenntnis eignet sich nicht dafür. Doch wird mit einem Schuldbegriff m. E. hier sehr leichtfertig und vorschnell hantiert. Dementsprechend wäre Existenz und vor allem die Selbsterhaltung als solche unentrinnbar schuldbehaftet, und zwar unabhängig von und vor jeder religiösen Konnotation. Sehr merkwürdig. – Weiter oben habe ich es schon angedeutet: Der wesentlichste Unterschied liegt im personalen und interpersonalen Charakter. Sexualität eignet er, der Ernährung nicht. Gegenwärtig scheint dagegen allerdings eine Relativierung des Personalen und auch des Interpersonalen im Trend zu sein – klar, wer als Stadtkind nur mit Kuscheltieren aufwächst, dem Kälbchen, dem Lämmchen und dem Schwein Vornamen gibt, der bildet sich gegebenenfalls auch ein, mit ihnen auf einer Ebene kommunizieren zu können. Doch das ist keine philosophische Frage, sondern eine Angelegenheit für den Therapeuten. Tiere und Pflanzen sind nicht als Individuen mit eigenem Persönlichkeitsrecht, sondern als Gattung Gegenstand unserer Sorge und Fürsorge. Und eines der untrüglichen Kennzeichen besteht in der Austauschbarkeit und Reproduzierbarkeit. Ich vernichte oder töte nicht Salatkopf Rudi oder Tomate Brigitte, wenn ich sie esse – ich esse ein (oder mehrere) Exemplare davon – und im „besten Falle“ baue ich auch selbst wieder Salat und Tomaten an. Mehr nicht. Analoges gilt für Lebensmittel, die von Tieren gewonnen werden. Ich sorge für sie, sie liefern mir: Fleisch, Eier, Milch. So viel zum Thema „Einwilligung“. – Das ist kein Plädoyer für Herzlosigkeit, sondern für Rückkehr zum Realismus, auch angesichts einiger zeitgenössischer seltsamer und überzogener Diskussionen um das „rechtliche Verhältnis“ zwischen Mensch und Tier. Nur ein Beispiel: Versuchen Sie mal eine „diebische Elster“ vor Gericht zu verklagen. Oder den Dackel Ihres Nachbarn, der in Ihrem Blumenbeet buddelt, auf Sachbeschädigung. Bevor der Vogel oder der Hund im Knast landen, landen Sie eher in der Psychiatrie …

Was bedeutet „gut“?

In einem weiteren Schritt wäre zu klären, was das Prädikat „gut“ in diesem Zusammenhang besagt. M.a.W.: Bedeutet „gut“ im Falle von Sex und Essen jeweils das Gleiche? Und wie stehen sie im Verhältnis zum „guten Leben“? Eine erste Vermutung geht dahin, dass „guter Sex“ bei Eilenberger durch das Lustvolle charakterisiert wird. Ist das bei „gutem Essen“ genauso? Bedeutet „gut“ also in diesem Zusammenhang beide Male nur „lustvoll“? Oder hängt nicht auch das Lustvolle des Sexes bei Eilenberger von einigen Voraussetzungen ab: „wechselseitige Einwilligung“ wird genannt, oder noch bedeutungsschwerer: Bejahung, was einen personalen Kern impliziert, m. a. W.: Liebe. Damit kommen ganz andere Werte ins Spiel.

Schuldig? Oder verantwortlich?

Woher kommt diese „Lust an der Schuld“? Der Frage soll an dieser Stelle nicht nachgegangen werden; ihre Untersuchung müssen wir bei anderer Gelegenheit nachholen. Aber die Frage, ob es überhaupt angemessen ist, in diesem Zusammenhang von „Schuld“ zu sprechen, muss erlaubt sein, und um es vorwegzunehmen: Ich behaupte, dass die Rede von Schuld in diesem Zusammenhang fehl am Platze, zumindest aber undifferenziert ist. Obwohl es keinen „neutralen“ Standpunkt gibt, von dem aus wir uns einen „unvoreingenommenen Blick“ auf die Welt erlauben können – wo sollte dieser Ort sein?; er ist eine pure „Utopie“ im wahrsten Wortsinne – obwohl es also solches nicht geben kann und auch nicht geben muss, können wir Strukturen und „Ordnungen“ voraussetzen bzw. erkennen, für die wir nicht verantwortlich gemacht werden können, die wir vorfinden, und dazu gehört, dass wir Leben nehmen müssen, um selbst zu leben, dass wir also Gewalt ausüben müssen, weil wir sonst unsere eigene Existenz aufs Spiel setzen. Das gilt selbst für die von Nils Markwardt in seinem Artikel erwähnten Laborversuche, Fleisch in der Petrischale herzustellen oder Lebensmittel bzw. Lebewesen genetisch zu manipulieren, um sie – in einem spezifischen Sinne – zu „optimieren“. Es gilt sogar in weit subtilerem Maße – und genau darin liegt eine Täuschung, nämlich die Mär von der „Gewaltlosigkeit“ dieser Methoden bzw. der trügerischen Hoffnung, Techniken wie diese könnten uns von dieser „Schuld“ erlösen.

Soweit ich sehe, sind wir die einzige Spezies, die sich diese Frage stellt (sieht man von den bemüht vegetarischen Haifischen in dem Disney-Film „Findet Nemo“ einmal ab, was eher eine humoristische Komponente hat). Es liegt also, wie man so sagt, „in der Natur der Dinge“. Von „Schuld“ kann hier noch keine Rede sein. Das heißt aber nicht, dass die Schuldfrage als solche ohne Bedeutung ist. Ein anderes, weniger verurteilendes Wort dafür ist „Verantwortung“, und dies umfasst nicht nur, wie im Falle des Wortes „Schuld“ eine nachträgliche Zuweisung der Verursachung bestimmter Zustände, sondern bezieht auch Prävention, Bewahrung, Erhaltung mit ein – im weitesten Falle: Bewahrung der Welt, der Erde, der Natur, des Lebens… was auch immer. Die Art und Weise, wie diese Verantwortung wahrgenommen wird, ist im menschlichen Falle: Kultur, und zu dieser sind wir in der Lage, weil wir uns im Gegensatz zu anderen Lebewesen als frei verstehen. Wir kultivieren unsere Welt – und uns in und mit ihr – um der Freiheit willen, wir sind frei um der Kultivierung der Welt willen, für die wir damit Verantwortung übernehmen. Kultur ist ein kreativer Akt. Und in diesem Kontext – und nur in diesem – können wir auch in gewisser Weise von Schuld sprechen.

Jetzt stellt sich natürlich die Frage: Kann man es sich bei der Lösung des Problems also so einfach machen? Ein paar Begriffe definieren, voneinander abgrenzen, Bedeutungen relativieren, enger oder weiter fassen – und schon ist man fein raus? Hängen wir also das Problem einfach ein bisschen höher, und schon ist es nicht mehr unseres, weil für uns eine Lösung unerreichbar wird? Nein, hier wird nicht getrickst.

Wann aber setzt die Rede von Schuld sinnvollerweise ein? Wenn wir unsere und die Existenz anderer (auch nichtmenschlicher) Mitgeschöpfe bedrohen und schlimmstenfalls vernichten? Wenn wir Bedingungen etablieren, die anderen die Möglichkeit zur Eigenentfaltung und überhaupt zum Leben nehmen? Die Antwort auf den „nutritiven Schuldzusammenhang“, um ein letztes Mal auf diesen zurückzukommen, besteht in der Kulturleistung des Menschen von Ackerbau und Viehzucht. Damit gleicht er – über die eigene Art hinaus – aus, was er dem natürlichen System entnimmt.

Klar kann, das sehen wir heute, auch dieses über Jahrtausende eingespielte Gleichgewicht aufs Spiel gesetzt und pervertiert werden – Stichwort: industrielle Landwirtschaft, Unterwerfung der Produktion und Verteilung von Lebensmitteln unter kapitalistischem Wachstumszwang mit seinen Konsequenzen der Überproduktion und Verschwendung, der Umweltbelastung und des Tierleids auf der einen, dem Hunger und den ungerechten Strukturen (z. B. Subventionen, die ausländische Märkte zerstören) auf der anderen Seite. Nur: Dieser „nutritive Schuldzusammenhang“ (und nur dieser) ist von uns selbst geschaffen, für ihn sind wir tatsächlich verantwortlich, er kann auch von uns wieder aufgehoben werden. Er ist kein „unentrinnbares Schicksal“, keine unausweichliche Konsequenz unseres Lebens. Wenn uns also der Appetit vergeht beim Nachdenken über das Essen, haben wir es in der Hand, das zu ändern.

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