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Die Sünde des Fleisches

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Eine Studie der WHO und ihre Konsequenzen

Die IARC – die Krebsagentur der WHO – stuft rotes Fleisch also als „wahrscheinlich krebserregend“ bzw. verarbeitetes rotes Fleisch (gepökelt, geräuchert, gegrillt …) als „krebserregend“ ein. Welch bahnbrechende Neuigkeit – welch hoher Erkenntniswert. Allgemein bekannt ist, dass in Südamerika und in den USA – mithin Regionen, in denen Rindfleisch in für den Normalesser unvorstellbaren Mengen verzehrt werden soll (und worauf ja die Kulinarik dieser Völker offenbar beruht) – die Darmkrebsrate signifikant höher liegt als – sagen wir – in Asien oder Afrika. Man hätte also nur die einschlägigen Statistiken anschauen müssen, um schon längst Alarm zu schlagen oder die überfälligen Schlüsse zu ziehen. So weit, so banal. Doch es stellt sich eine ganz andere Frage. Nämlich die nach dem Wert und dem Zweck dieser „Sensationsmeldung“, die sich kein deutsches Leitmedium gestern entgehen ließ.

Worin liegt also das Besondere dieser Nachricht? Etwa darin, dass „weißes Fleisch“ (also Geflügel) und Fisch eher unbedenklich sind? Darin, dass wir bei der Wahl unserer Lebensmittel achtsamer sein sollten? Dass einseitige Ernährung zu gesundheitlichen Schäden führt? Ginge es wirklich darum, eine ethisch und gesundheitlich verantwortbare Wahl zu treffen bezüglich des Fleischgenusses, dann müssten auch Geflügel und Fisch wegen unerträglicher Haltungs- und Aufzuchtbedingungen oder der rücksichtslosen Überfischung, mithin die Mechanismen des globalen Ernährungsmarktes benannt werden. Werden sie aber nicht. Hier wird nicht „die Systemfrage“ gestellt, die – konsequent beantwortet und exekutiert – von sich aus zu einem anderen Angebots- und damit Konsumverhalten führen würde, weil nämlich Fleisch dann nicht mehr zu diesen Schleuderpreisen verkauft werden könnte, wie es seit Jahrzehnten Usus ist; weil der westliche Ernährungsstil, der industriell hergestellte Nahrungsmittel mit Unmengen an Zucker, Salz, Fett, billigen Kohlehydraten wie Massendrogen unters Volk bringt, sich als unhaltbar erweisen würde. Weil Lebensmittel dann nicht mehr das „Wegwerfprodukt“ wären, das sie heute in den reichen Industriegesellschaften des Westens sind, billiger als jedes Gemüse oder Obst.

Nun kann man natürlich sagen, dass die WHO kein politisches oder ökonomisches oder gar ein ökologisches Statement abgegeben hat, sondern erst einmal nichts anderes als Studienergebnisse veröffentlicht und die Konsequenzen, die daraus gezogen werden sollen, anderen überlässt: der Politik, dem Einzelnen, diversen Organisationen. Doch eine Wortmeldung der WHO ist nicht irgendetwas. Auf dieses werden sich Gesundheitspolitiker, Drogenbeauftragte, Mediziner, Ernährungsberater und jeder, der sich berufen glaubt, etwas Allgemeingültiges zu diesem Thema zu sagen zu haben, stützen, um die „Verordnungsschraube“ für den Bürger weiter anzuziehen.

Und das Spiel wird das gleiche sein wie immer: Es wird kontrolliert, verboten, reguliert oder sanktioniert, aber nicht dort, wo es angebracht wäre, nämlich bei den Profiteuren des Systems, der industriellen Landwirtschaft, der Lebensmittelindustrie, den „Global Playern“ in Produktion und Handel. Sondern beim Individuum. Nein – es geht um etwas ganz anderes: Diese Meldung der WHO soll nicht dem verantwortungsvollen Umgang mit Lebensmitteln das Wort reden, soll etwa nicht zu einer verantwortbaren Erzeugung und ebensolchem Konsum führen, das Marktsystem und seine Mechanismen kritisierenoder gar Aufklärung schaffen oder Bildung fördern, sondern schlicht Angst erzeugen. Und wie beliebig der Umgang mit diesen Bewertungen und Verlautbarungen der WHO ist, zeigt das Beispiel Glyphosat, das die WHO ebenfalls als „krebserregend“ einstuft. Wird man etwa deshalb ein Verbot aussprechen? Einfluss nehmen auf die Produktionsweisen in der Landwirtschaft? Das Gegenteil ist der Fall, wie diese Meldung zeigt. Aber hier geht es ja darum, dass man nicht mächtige Lobbys verprellt, sondern „nur“ um die Gängelung des Bürgers. Und was schließlich klingt da bedrohlicher und disziplinierender als die Wertung „krebserregend“?

Zugegeben: Von allen gesundheitlichen Geißeln, die Menschen treffen können, ist Krebs eine der schlimmsten und gefürchtetsten. Zu Recht. Über die Ursachen der Krankheit wird seit je geforscht und unbestreitbar hat es Fortschritte gegeben. Aber die Ursachen sind so vielgestaltig, dass man bestenfalls sagen kann: Ja, es gibt wahrscheinlich Lebensumstände, die krebsfördernd sind, und einige können wir benennen, andere nicht. Einige können wir beeinflussen, andere nicht. Manche Menschen haben eine besondere Disposition dafür, an Krebs zu erkranken, andere nicht. Wir können noch nicht einmal bei einer Erkrankung einen Faktor als die Hauptursache benennen, weil die Kombination der Lebensumstände so unterschiedlich sein kann wie die Menschen selbst eben sind, egal ob Raucher, Trinker oder Drogenkonsument oder eben Abstinenzler. Auch da ist das Schicksal ziemlich „ungerecht“. Gut, Prophylaxe ist nun mal besser als jede Therapie, deren Erfolgsaussichten gerade bei so schwerwiegenden Krankheiten zwar in den letzten Jahrzehnten gestiegen sind, die aber letztlich alle nur eine Reparatur sind. Der frühere Zustand der Betroffenen wird nach dem Durchleben einer solchen Krankheit nie mehr hergestellt sein. Jeder Mensch ist nach einer überstandenen Krebskrankheit ein anderer – was vermutlich auch für jede andere schwere Krankheit und jeden anderen Schicksalsschlag gilt. Und mit dieser Angst wird – verantwortungslos! – gespielt bei dieser „Horrormeldung“. Denn es wird suggeriert: Du allein, du Esser, du verantwortungsloser Vertilger von Fleisch – nur du bist für dein Schicksal und deine Gesundheit verantwortlich. Verzichte und du wirst gesund!

Um es einmal deutlich zu sagen: Infrage gestellt wird hier nicht, dass Menschen mit der Wahl ihrer Lebensmittel und Ernährungsweise verantwortbare Entscheidungen treffen müssen, dass angesichts all der sozialen, ökologischen und ökonomischen Probleme auch das Individuum gefordert ist. Fragwürdig ist allein die erkennbare Absicht, einseitig Menschen die individuelle alleinige Verantwortung für ihre Gesundheit und für die Umwelt aufzubürden und die Gesellschaft weiter zu entsolidarisieren. Hier werden die Hauptverursacher von Krisen, von Gefahren für Gesundheit und Umwelt aus der Verantwortung entlassen und die Gewichte einseitig zulasten Einzelner verschoben. Klar kann man fordern, dass Menschen weniger dies, mehr das, weniger verarbeitete und mehr ursprüngliche Nahrungsmittel verzehren sollen, dass sie das mikroskopisch Kleingedruckte auf jeder Packung lesen und bitteschön auch die Bedeutung der E-Nummern für sämtliche verwendeten Zusatzstoffe auswendig lernen sollen. Aber wer tritt eigentlich der Lebensmittelindustrie, wer der industriellen Landwirtschaft mal kräftig auf die Zehen, um sie an ihre Verantwortung zu erinnern – oder dem Lebensmitteleinzelhandel mit seinen Ketten und Verflechtungen an Discountern und Supermärkten, die ein Preis- und Lohndumping sondergleichen betreiben, unter dem die Betroffenen, ob Erzeuger, Angestellte oder Kunden, leiden und die dadurch gezwungen sind, ein unerträglich gewordenes System zu unterstützen, weil sie sich anständige Lebensmittel mit ihren Dumpinglöhnen eben auch nicht mehr leisten können? Wer die Profiteure sind, ist ja wohl hier eindeutig.

Stattdessen wird durch solch ein Pauschalurteil nicht nur der Ernährungssouveränität des Einzelnen, sondern der kulinarischen Kultur ein weiterer Schlag versetzt werden. Handwerklich und bäuerlich hergestellte Lebensmittel, die auf Zusatzstoffe weitestgehend verzichten oder sie in weit geringerem Maße einsetzen, sind überhaupt nicht mit der industriellen Ramschware vergleichbar, die man „unter Schutzatmosphäre“ abgepackt im Kühlregal findet. Sie sind Lebens-Mittel im direkten Wortsinn. Nicht nur Magenfüller und überwürzte Sattmacher ohne jegliche Identität. Fleischverarbeitung und Wurstherstellung sind eine Jahrtausende alte Kunst, haben kulturelle Schätze hervorgebracht, haben Gemeinschaften gestiftet, Gastfreundschaft und Sozialität begründet, zum Entstehen von Kulturlandschaften und von Traditionen beigetragen, von deren Image auch die zweifelhaften Artefakte zehren, die wir in den Discountern und Supermärkten vorfinden. Wer bitte wird bereit sein, hier zu differenzieren angesichts einer solchen „Schreckensmeldung“? Die üblichen Reaktionsweisen und untauglichen Abwehrmechanismen (sog. gute Vorsätze wie „Nie mehr esse ich Fleisch“, die in der Regel eine Halbwertzeit von zwei bis drei Tagen haben) legen den Schluss nahe, dass auch dann alles beim Alten bleibt, nur dass man halt ab jetzt mit schlechtem Gewissen weitermacht (… aber morgen, da höre ich auf, gell …)

Die Verlautbarung der WHO wäre wertvoll gewesen, wenn sie gleichzeitig diese Ursachen benannt hätte und statt sinnlose Pauschalurteile in die Welt zu setzen, differenziert argumentiert hätte. Doch das wäre natürlich keine Meldung wert gewesen.

 

P.S.: Das Beitragsbild zeigt übrigens eine „Ahle Wurscht“ – einen Passagier auf der „Arche des Geschmacks“ von Slow Food und eine Ikone handwerklicher Wurstherstellung, frei von Pökelsalz und Geschmacksverstärkern. Näheres hier

 

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