Denk-Mahl

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Denken macht frei

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Wenn man sich den gegenwärtigen geistigen Zustand der Welt anschaut, kann einem angst und bange werden. Mäßigende, reflektierende Stimmen fehlen zwar nicht, aber sie werden einfach überhört, noch schlimmer: übertönt. Die täglichen Nachrichten von Attentaten, Zerstörungen, Prügeleien, Anschlägen auf Flüchtlingsheimen – jede Gelegenheit scheint recht zu sein, den Aggressionen freien Lauf zu lassen. Wir brauchen gar nicht in Richtung Naher Osten oder Nordafrika zu blicken, wo islamistische Terroristen ihr Unwesen treiben. Ob ein Massaker in einem Gay-Club in Florida, Hooligans bei einem Sportereignis wie die Fußball-Europameisterschaft in Frankreich oder das Attentat auf eine Politikerin im Umfeld des bevorstehenden Referendum über einen „Brexit“ in Großbritannien (wobei die genauen Umstände noch nicht bekannt sind) – es ist, als seien alle irgendwie im Gewaltrausch angekommen, als seien alle Dämme dabei zu brechen. Dabei spielt es keine Rolle, welcher Nationalität, welcher Gruppe, politischen oder religiösen Überzeugung man angehört oder anhängt. Diese Gewalt bricht sich einfach Bahn – und es fehlt auch nicht an geistigen Brandstiftern und Brandbeschleunigern, die diese Situation skrupellos ausnutzen und für ihre Zwecke instrumentalisieren. Selten hatte Vernunft einen derart schweren Stand.

Trotz – oder wegen (?) – dieser deprimierenden Ausgangslage hat sich nun die Redaktion des „Philosophie Magazins“ entschlossen, ein Sonderheft zu Hannah Arendt herauszubringen (ab sofort im Zeitschriftenhandel).

Würde in diesem Chaos eine Stimme wie die von Hannah Arendt überhaupt zur Kenntnis genommen? Und doch – es wäre so nötig, eine Persönlichkeit wie sie noch unter uns zu haben. Sie hat Position bezogen, sich nicht vereinnahmen lassen, selbst auf die Gefahr hin, missverstanden und abgelehnt zu werden. Sie hat das Risiko in Kauf genommen, selbst langjährige Freunde vor den Kopf zu stoßen oder gar zu verlieren. Freiheit, so weiß sie, ist nicht gratis zu haben, sie hat ihren Preis. Hannah Arendt nahm sich „die Freiheit des Denkens“ – so der Untertitel des Hefts. Denken ist Ausdruck von gelebter Freiheit – und ebenso gilt: Denken macht frei.

Textauszüge aus ihren bekanntesten Werken wie „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, „Vita activa“ oder auch aus dem Bericht „Eichmann in Jerusalem“ sowie aus dem „Denk-Tagebuch“ gewähren nicht nur einfach Einblick in ihre Gedankenwelt, sondern laden zum „Mitvollzug“ ein, was namhafte Persönlichkeiten wie Rahel Jaeggi, Susan Neiman, Daniel Cohn-Bendit oder Gesine Schwan veranlasst, zustimmend, aber auch kritisch Stellung zu Hannah Arendt zu nehmen, die sich nicht als „Philosophin“ (im Sinne einer „System-Philosophie“), sondern als politische Denkerin verstand.

Ja, auch wenn die „Sache des Denkens“ zurzeit eher aussichtslos erscheint, darf man nicht nachlassen. Es ist – um auch das Thema der letzten Ausgabe des Philosophie-Magazins noch einmal aufzugreifen – Teil meiner, unserer Verantwortung, sich daraus nicht zurückzuziehen, so verlockend ein Rückzug aus Resignation auch sein mag, auch weil er uns ermöglicht, die Hände in Unschuld zu waschen.  Unschuld – für Hannah Arendt hatte sie den Ruch der „Feigheit“: „Wenigstens habe ich etwas gemacht! Wenigstens bin ich nicht unschuldig. Das soll mir keiner nachsagen“, äußerte sie in ihrem legendären Interview mit Günter Gaus (1964). – Welchen Preis sind wir bereit, für die Freiheit zu zahlen?

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