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Essen als Religion

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Hanni Rützler, Wolfgang Reiter: Muss denn Essen Sünde sein? Orientierung im Dschungel der Ernährungsideologien, Wien, Christian Brandstätter Verlag, 2015, 182 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, € 19,90, zu beziehen über die Buchhandlung Ihres Vertrauens

Essen und Religion gehören zusammen – seit jeher. Ob man ein Opfer darbringt und ein rituelles Essen anschließt, ob man ein Gedenkmahl feiert – wie beim christlichen Abendmahl oder beim jüdischen Pessachfest – oder gar Verzicht übt im Fasten und am Ende dieser Zeit, beim Fastenbrechen, erneut mit einem Mahl feiert. Und es ist kein Spezifikum einer bestimmten Religion, sondern Bestandteil jeglichen Kultes oder Bekenntnisses.

Neu aber ist, dass Essen nicht nur Bestandteil der Religion, Teil des Kultes ist, sondern dass es selbst zur Religion geworden ist. Das passt zur Individualisierung unserer Zeit und zu seiner Isolierung oder „splendid isolation“. Und damit auch der Begriff „Sünde“. Die individuelle Schuld, die man auf sich lädt und zu der man sich bekennt, überlagert die Strukturen und gesellschaftlichen Verstrickungen, denen das Individuum ausgeliefert ist und gegen die es wie gegen Windmühlen kämpfen kann, ohne sich doch jemals aus ihnen befreien zu können. Sie erweisen sich stets als stärker. Das einzige, was gegen diese Übermacht hilft, ist Ignoranz oder Abwertung. Alles nicht so schlimm – nichts zu machen.

Doch wohin mit all diesen Schuldgefühlen? Man frisst sie am besten in sich hinein. Sie sind die Speise des aufrechten Gläubigen, der sich selbst zerknirscht und weil er diesen Zustand auf Dauer nicht aushält, selbst zu missionieren beginnt. Leider sind sie nicht sehr sättigend.

Hanni Rützler und Wolfgang Reiter, die eine Ernährungswissenschaftlerin, die schon seit Jahren Gastro- und Esstrends auf der Spur ist, der andere Kulturwissenschaftler mit Erfahrung in Dramaturgie, geben uns in ihrer Studie einen Leitfaden, um möglichst unbeschadet durch den „Dschungel der Ernährungsideologien“ zu kommen. Dabei zeigen sie auf, wie der gesellschaftlich und medial ausgetragene Streit um die „richtige“ Ernährungsweise zur Auseinandersetzung um das „richtige Leben“ geworden ist, immer eingedenk Adornos Satz, dass es „kein richtiges Leben im falschen“ geben könne. Ihr Ansatz ist dabei recht pragmatisch, denn die Basis für ein gelingendes Leben besteht für sie in der Balance zwischen Ethik, Genuss und Gesundheit. Die ausgewogene Mischung macht’s – ganz im Sinne ihres Landsmanns Robert Pfaller, den sie auch als Gewährsmann einer materialistischen Philosophie anführen und der mit seinen Arbeiten über „Zweite Welten“ und die Frage „Wofür es sich zu leben lohnt“ geistreich aufgezeigt hat, zu welchem „Tugendterror“ eine „absolute Herrschaft der Vernunft“ führt, der es nicht gelingt „auf vernünftige Weise vernünftig“ zu sein und die sich damit letztlich selbst abschafft.

Konsequent etwa decken sie daher die inneren Widersprüche etwa des strikten, sich moralisch gerierenden Veganismus auf, der zwar Rechte für Tiere einfordert, aber keinesfalls diese Rechte auch Menschen zugesteht. Sie verweisen auf die Irrungen und Wirrungen derer, die sich die Frage nach der „richtigen Ernährung“ stellen, sei es Paläo-Diät, seien es die aktuellen „Free-from“-Marotten, aber dabei nur einer profitgeilen Ernährungsindustrie in die Hände spielen, aber keinesfalls zu befreitem und sorglosem Genuss beitragen – ausgenommen natürlich für jene wenigen, die wirklich unter Unverträglichkeiten leiden.

Sie räumen aber auch mit lieb gewordenen Vorurteilen oder allzu simplen Lösungen auf, die darin bestehen, die Probleme, die moderne Ernährungsstile aufwerfen, oder ernährungswissenschaftliche Erkenntnisse zu ignorieren, um sich einfach seinem „Bauchgefühl“ anzuvertrauen, das ja ohnehin den meisten Zeitgenossen abhanden gekommen zu sein scheint. Sie stellen klar, dass „Fast Food“ nicht zwangsläufig schlecht sein muss und dass die Welt keinesfalls untergeht, wenn man sich einmal nicht an die selbst auferlegten Regeln hält oder auch mal über die Stränge schlägt.

Dass ein solches Unterfangen selbst nicht frei von Widersprüchen sein kann, ist klar. Zu optimistisch, ja teilweise blauäugig scheinen die Autoren moderne Technologien zur Steigerung der Lebensmittelproduktion zu preisen (z. B. „Vertical Farming“), die doch eher an der Agroindustrie ausgerichtet sind als an wirklich nachhaltigen Erzeugungsmethoden. Ihnen ist jedoch zuzustimmen, dass eine alternative Landwirtschaft ebenfalls nicht einfach rückwärtsgewandt und für Forschungen aufgeschlossen sein muss, um eine glaubwürdige Alternative zum bestehenden agroindustriellen Komplex zu sein.

Der angenehm lesbare, beschwingte, nie belehrende Stil des Autorenpaars macht die Lektüre zu einem aufschlussreichen Vergnügen. Die besprochenen Themen regen zum Nachdenken über die eigene Befangenheit an und sorgen für eine neue Übersichtlichkeit im Labyrinth moderner Essgewohnheiten, nicht ohne auch die Lust und Freude am Genuss als unverzichtbar für ein lohnendes Leben zu würdigen.

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