Denk-Mahl

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Ich verzehre mich nach mir …

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„Bin ich, was ich esse?“; lautete die Titelfrage, der die Redaktion des Philosophie-Magazins in der diesjährigen vierten Ausgabe ein Dossier von rund 25 Seiten widmete. Gleich im Editorial bekannte Chefredakteur Wolfram Eilenberger, mit dem Thema seine liebe Not gehabt zu haben, wolle es ihm doch, seitdem er darüber nachdenke, nicht mehr so recht schmecken. Das Problem: Anders als guter Sex, dem doch Gabecharakter eigne, der auf wechselseitiger Einwilligung und Bejahung beruhe, sei der Akt des Essens immer nichtkonsensuell, unilateral, gewaltbehaftet. Er basiere für Wesen wie uns fast ausnahmslos darauf, etwas getötet zu haben, was eigentlich leben wolle. Und das gelte auch für bewussten, ethischen, nachhaltigen Konsum. Andererseits: Es gebe wenige Fragen, die wichtiger seien im Leben als die des Essens. Dazu passt, dass der zweite Schwerpunkt in diesem Heft „Dostojewski und die Schuld“ ist. Überhaupt dreht sich viel um dieses Thema „Schuld“, u. a. in einem Interview mit dem inzwischen zurückgetretenen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis.

Essen nur und ausschließlich im Zusammenhang mit Schuld? – da kann einem tatsächlich manch Bissen im Halse stecken bleiben. Und doch wollen, ja müssen wir essen – und dürfen dies auch nicht gedankenlos tun. Die Hoffnung, auf den folgenden Seiten einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden, wird jedoch enttäuscht, ja, sie muss es sogar. Wenn das Magazin seinem Anspruch auf philosophischen Diskurs gerecht werden will, darf es eben nicht fertige Antworten liefern. Gerade diese Offenheit macht aber die Lektüre spannend. Zwar kann Catherine Newmark feststellen, Essen sei das Gegenteil von Skepsis, denn ein essendes Subjekt zweifle nicht, sondern bejahe die Welt, indem es sie in sich aufnehme; die Wahl des jeweiligen Ernährungsstils und der Lebensmittel werde zum letzten Ausdruck einer souveränen Entscheidung über die Gestaltung des eigenen Lebens; aber auch sie stellt die politische Wirksamkeit – etwa des „ethischen Konsums“ – dieser privatistischen Selbstgenügsamkeit – infrage, weil sie die eigentlichen Fragen außen vorlasse (die sie freilich auch nicht formuliert). Dem kann man nur (resigniert?) zustimmen. Aber was dann?

Hilft es bei der Entscheidungsfindung, den beigefügten Test zu machen, um seinen Ernährungstypus zwischen dem „ungezügelten Genussmenschen“ und dem bedachten Gesundgenießer oder dem rationalen Asketen zu verorten? Wohl kaum, wenn dies nicht zur Reflexion über die einzelnen Typen und damit zur Wertung führt, sondern lediglich zur Anerkennung der Tatsachen. Man sollte ihn daher auch nur mit dem nötigen Humor durchführen. Unterhaltend – ja, aussagekräftig: eher nicht. Natürlich habe ich den Test gemacht. Ergebnis: Ich bin ein „hedonistischer Intuitionist“. Alles andere hätte mich auch gewundert …

Oder sollen wir auf eine Reanimation der „Metaphysik der Verdauung“ setzen, deren Geschichte von der Antike bis zur Postmoderne Cécila Bognon-Küss nachzeichnet? Liegt im Wandel der Ansichten über die Typologie des Magens – vom Kochkessel bis zum Alchimisten – ein sinnvoller Ansatz? Eine solche historische Bestandsaufnahme zeigt doch letztlich auch nur, dass die Frage nach dem „guten“ und auch dem „richtigen“ Essen von Voraussetzungen abhängig ist, die wir erst im Nachhinein verstehen, weil wir, solange wir uns in ihrem Kontext bewegen, ohnehin blind für Alternativen sind. Einen Ausweg aus dem bezeichneten Dilemma bietet auch sie nicht.

Vielleicht bringt uns ja ein Blick auf die Kulturgeschichte weiter und die Einsicht, dass wir mit jedem Bissen nicht nur das Erbe der Menschheit in uns aufnehmen, sondern uns auch als Teil einer seit Jahrtausenden andauernden „Verfeinerungsgeschichte“ verstehen (was angesichts der modernen, industriellen Nahrungsmittelproduktion und der üblichen globalisierten Ernährungsweise doch mehr als fraglich erscheint). In diesem Sinne erklärt uns der Kulturwissenschaftler Ronald Düker anhand von sechs „mythischen Mahlzeiten“ die Essbarkeit der Welt (um einen bekannten Buchtitel von Hans Blumenberg zu modifizieren). Schön und gut, aber wie eine Rückbesinnung auf das kulturelle Erbe unsere Schwierigkeit beheben kann, bleibt auch hier unklar. „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen“ – könnte man mit Goethe (Faust I) entgegnen – diese Arbeit bleibt aber auch am Leser hängen. Kochen lernen, wäre eine Antwort darauf, den Genuss durch Wissen steigern vielleicht.

Oder eine nietzscheanische Umwertung aller Werte als Umwertung aller Nährwerte, wie Nils Markwardt formuliert, der den Traum von einer „anderen gastronomischen Weltordnung“ in der dialektischen Spannung zwischen Rousseau und Nietzsche verortet? Wie man es dreht und wendet: Die alternativen Bewegungen von Lebensreformern bis zu den Poststrukturalisten der 80er haben diese Doppeldeutigkeit hervorgebracht, die zwischen „Natürlichkeit“ und „Künstlichkeit“ oszilliert. Sie kranken alle an der Nabelschau des satten, selbstzufriedenen Bewohners der industrialisierten westlichen Welt. Auch der Internationalen Vereinigung Slow Food attestiert Markwardt zwar, mit einem Gemisch aus Rousseau’scher Naturromantik, Marx’scher Kapitalismuskritik und nietzscheanischem Vitalismus eine kulturkritische Funktion zu haben – mit dem immerhin zur Kenntnis genommenen Slogans „Gut – sauber – fair“ –, aber er stellt auch die Frage, ob nicht dies durch jene aus dem Geist der Hippie-Bewegung entstandenen Zukunftskonzerne überholt wird, die in Kalifornien (und anderswo) längst an Alternativen wie genmanipulierte Nahrung, Laborfleisch oder Erschließung neuer Erzeugungsräume (wie fruchtbarer Meeresboden, Vertical Farming usw.) basteln. Die Lösung der Schwierigkeit, nicht mehr töten zu müssen, um zu essen, verlagert sich also in die Petrischale bzw. ins Labor. Doch auch dort wird nicht Leben erzeugt, sondern nur mit ihm experimentiert.

Das eingangs beschriebene Problem erfährt letztlich eine Zuspitzung durch ein Streitgespräch zwischen dem Philosophen Harald Lemke und der bekannten Köchin und Food-Aktivistin Sarah Wiener. Neben einem Austausch über die inzwischen hinlänglich bekannte Rolle, die sowohl die (sinnenfeindlich dominierte) Geistesgeschichte als auch die Religion und insbesondere das Christentum (vor allem in seiner asketisch-protestantischen Ausrichtung) bei der Bewertung des Kochens und Essens – und überhaupt des Genusses – spielten, sind die beiden sich zwar einig, dass heutige Ernährung fast nichts mehr mit Natürlichkeit zu tun hat. Unterschiede bestehen aber hinsichtlich des Zugangs zur Beantwortung der Frage, wie das Problem der gleichzeitigen Über- und Unterernährung in der westlich-industrialisierten Welt und die Hungerproblematik weltweit überhaupt anzugehen seien. Ist es, wie bei Lemke, eine Reflexion über unser Tun oder – wie bei Wiener – eine „Bauchentscheidung“, die durch das Wiedererlernen und Wiederentdecken des Gespürs dafür, was mir gut tut, getroffen wird? So bleibt schließlich das Grunddilemma bestehen, dass wir als Menschen dem „nutritiven Schuldzusammenhang“, wie Lemke es nennt, nicht entkommen können, weshalb, wie Wiener abschließend feststellt, Essen kein „Privatvergnügen“ mehr ist.

Man könnte am Schluss der Lektüre fragen: Wozu das Ganze? Haben die diversen Nachforschungen über geschichtliche Entwicklungen und über die Entstehung von Esskultur uns in der Frage, die Eilenberger in seinem Editorial aufwarf, irgendwie weitergebracht? Sie haben, ohne Zweifel, unser Wissen und unsere Kenntnis über die Hintergründe vermehrt. Inwiefern sie Denkanstöße liefern, liegt beim Leser selbst. – Dennoch bleibt ein flaues Gefühl zurück. Woran könnte es liegen, dass uns ein Ausweg aus dem von Eilenberger skizzierten Dilemma so schwer fällt? Könnte es daran liegen, dass die Perspektive auf die Frage nach dem „richtigen Essen“ und dem „guten Leben“ subjektivistisch verengt ist. Nirgends ist in diesen Beiträgen von der sozialen, von der interpersonalen Dimension des Essens die Rede – und das könnte der Schlüssel auch zu Eilenbergers Problem sein. Das Ich, nach dem ich mich verzehre, steht im Mittelpunkt der Reflexion, das eigene, egozentrierte Wohlergehen oder auch Wohlgefühl oder eben Schuldgefühl. Ist es ein Wunder, dass ich daraus nicht ausbrechen kann, wenn ich nicht von mir absehe, die Reflexion ausschließlich um mich selbst kreist? Dem werde ich in einem weiteren Beitrag nachgehen.

 

 

 

 

 

 

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