Denk-Mahl

Das Blog für Freunde des eigenen Verstandes

9. Dezember 2014
von Johannes Bucej
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Die Würde des Menschen beginnt mit dem Kochtopf

Michael Pollan: Kochen. Eine Naturgeschichte der Transformation. Übersetzt v. Katja Hald, Enrico Heinemann, Renate Weitbrecht, Verlag Antje Kunstmann, München 2014, 524 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-88897-973-6, € 29,95 (als E-Book € 23,99, ISBN 978-3-88897-989-7) – erhältlich beim inhabergeführten Buchhandel Ihres Vertrauens

Wer sich nicht wehrt, kommt an den Herd. Doch „essen muss der Mensch“, wie Tatort-Kommissar Batic einmal lakonisch feststellte – als er am Schreibtisch nebenbei eine Pizza aus dem Pappkarton vertilgte – von Essen, von Kochen gar kann ja da überhaupt keine Rede sein. Womit wir beim Thema wären. Wie sehr war die heiß ersehnte Befreiung der Frau aus dem Bermuda-Dreieck von Kinder – Küche – Kirche mit der Hoffnung verbunden, den Hunger von maulenden Sprösslingen und nölenden Ehegatten ohne Mühe stillen zu können. Nie mehr statt Dank nur schlechte Laune zu ernten, weil wieder mal das Schnitzel in der Pfanne angebrannt war, die Nudeln zerkocht oder die Präferenzen der Familienbande nicht gebührend beachtet wurden (Vater: Fleisch, Kinder: Spaghetti mit Tomatensauce – beides täglich, versteht sich).

Auf der anderen Seite stehen die mahnenden Mediziner und ein Heer von Ernährungsberaterinnen, unterstützt von (halb-)staatlichen sowie privaten Institutionen und Gremien, die unentwegt und unverdrossen eine „ausgewogene und abwechslungsreiche Ernährung“ fordern, die frau gar nicht mehr gewährleisten kann. Inzwischen zwar vom Herd befreit, aber durch den Job gestresst, sichert sie durch das Zweiteinkommen nicht nur die pünktliche Mietzahlung, sondern auch den Zweiturlaub, die Wünsche des Nachwuchses, nicht nur bei Klamotten, sondern auch in puncto Unterhaltungselektronik mit der richtigen, aktuell angesagten Marke stets up to date zu sein und auch sonstige Konsum-Sonderwünsche zu erfüllen. Und so spielen diese unrealistischen Ratschläge dem eigentlichen Gewinner dieser „Befreiung“ in die Hände. Weiterlesen →

25. November 2014
von Johannes Bucej
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Bildung ist kein „Teebeutel“

Auf Spiegel Online beschreibt ein 16-Jähriger ziemlich eloquent und professionell (da sind Zweifel an seiner Autorschaft durchaus angebracht) seine angebliche Erfahrung mit der ersten selbst gekauften Zeitschrift – einem Magazin (Geo Wissen: Kapitalismus). Dass das Ganze schlicht ein Fake ist, ist auch möglich. Doch ich gehe mal darauf ein und schreibe diesen Artikel dem jungen Mann zu – schon, um das Folgende übersichtlich zu halten. Mögen andere sich der Frage der Authentizität widmen (z. B. in den aufschlussreichen Leserkommentaren). Der Vergleich „Internet vs. Print“ nämlich ist es eigentlich, der das Ganze interessant macht. Zeigt er doch die Kluft, die zwischen einem „Leser alter Schule“ (nicht altersabhängig; es gibt auch noch junge Leser, die zu einem Buch oder Magazin greifen) und einem sog. „digital native“ – der allerdings in diesem Fall auch „digital naive“ heißen könnte. Weiterlesen →

9. November 2014
von Johannes Bucej
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Kochkunst-Avantgarde: Zwischen hoher Schule und ausgemachtem Blödsinn

Wo Kochen über das Bedürfnis der Sättigung durch Transformation des „Rohen“ ins Genießbare  hinausgeht, wird es zur Kunst. Doch Was unterscheidet einen Teller von Harald Wohlfahrt von dem eines sogenannten Avantgardisten wie Joachim Wissler (beide mit drei Michelinsternen ausgezeichnet)? Was ist hohe Kunst, die wirklich neue Geschmackswelten erschließt, was bloße Effekthascherei? Wie ist der Unterschied zwischen Kunst und Blödsinn zu fassen? Und wo liegt die Grenze? Bei „am Salzstein gegarter Fjordforelle mit Nebel aus Trockeneis über erwärmter Fichte“? Bei fermentierten Blumenkohlstrünken, die zu kunstvollen Figuren geschnitzt werden? Essbaren Blumenzwiebeln oder mit heißem Trüffelsaft gefülltem Eigelb? Oder Kolostrum als Dessert? Nun, manches ist der Dekadenz der römischen Oberschicht nicht unähnlich (Karikatur: mit Bärenblutwurst gefüllte Giraffenhälse oder Nachtigallenzungen in Aspik wie in „Asterix bei den Schweizern“). Da sehnt man sich vielleicht tatsächlich nach einer klaren Gemüsesuppe wie der römische Quästor, der dem dekadenten Treiben auf den Grund gehen soll. Die allerdings wird dann vom genervten Koch der Haute volée wieder als extravagant angesehen: „Klare Gemüsesuppe – was denen nicht noch alles einfällt für ihre Orgien.“

28. Oktober 2014
von Johannes Bucej
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Geist ist geil

„Der Mensch bleibt unlesbar“ – unter dieser Überschrift brachte die SZ am 18. Oktober 2014 eine Doppelseite über das „Manifest der Hirnforscher“. Vor zehn Jahren wurde es veröffentlicht – von führenden Neurologen, Neurobiologen, Psychologen. Und? Was ist daraus geworden? Ein Sturm im Wasserglas. Fraglich bleibt, ob das menschliche Gehirn jemals sich selbst verstehen wird. Ein Menetekel für das 2013 von der EU gestartete „Human Brain Project“, die europäische Antwort auf das amerikanische Brain Activity Map Project (auch: Brain Initiative)? – Was mich wundert, ist die anhaltende Energie, mit der man nicht nur versucht, menschliche Schwächen zu beheben, seien es Krankheiten wie Demenz oder geistige Beeinträchtigungen, Lernschwächen oder Hirnschädigungen – alles verständlich, alles an sich lobenswert. Sondern vielmehr die Tatsache, dass man dies auf rein naturwissenschaftlichem Weg, rein funktional versucht. Es ist und bleibt ein fundamentales Missverständnis, rein technisch-naturwissenschaftlich geistige Prozesse verstehen und vor allem beherrschen zu wollen. Willensfreiheit? Verantwortung? Lassen sich halt nicht im Zusammenspiel von Synapsen erklären – und den Menschen damit zur Manipulationsmasse werden. Das ist nicht Wissenschaft, sondern Ideologie – nicht mal mehr Wissenschaftsglaube, sondern -aberglaube, ergo, etwas völlig Irrationales. Apropos: Auch das Verständnis von „Rationalität“ ist entlarvend: linear, eindimensional, banal.
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11. Oktober 2014
von Johannes Bucej
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Sapere aude!

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ – so definierte der Königsberger Immanuel Kant das Ziel der Aufklärung, jener Epoche, die das moderne Europa einleitete – in gesellschaftlicher, politischer und auch sozialer Hinsicht. Seine Übersetzung einer Sentenz des römischen Dichters Horaz ist heute noch hoch aktuell. Dabei geht es nicht mehr nur um Bevormundung durch Autoritäten – das verbitten sich heute die meisten. Nein, es geht eher um Denkfaulheit, um eingefahrene Wege, darum, vieles als selbstverständlich anzunehmen, das es bei weitem nicht ist. Und um den Tunnelblick.

In seiner „Kritik der Urteilskraft“ nennt Kant denn auch die „Maximen des allgemeinen Menschenverstandes“: 1. Selbstdenken. 2. An der Stelle jedes anderen denken. 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken. Wobei „2.“ nicht meint: Anstelle anderer zu denken, sondern sich in den anderen hineinzuversetzen.

Dabei hat das lateinische Verb „sapere“ noch ein paar weitere Bedeutungen: verständig, klug sein – und: schmecken. Geschmack und Erkenntnis gehören zusammen. Gegenstände mit dem Mund zu erforschen, ist eine der ersten Arten und Weisen, die Welt, in die wir erst vor Kurzem eingetreten sind, kennenzulernen und zu verstehen. Erst das „Pfui“ und „Bäh“ unserer Eltern beschränkt uns in diesen Drang. Wir sollten uns daran erinnern und ihn gelegentlich wieder zum Leben erwecken.

(c) Johannes Bucej 2023