Denk-Mahl

Das Blog für Freunde des eigenen Verstandes

Bildung ist kein „Teebeutel“

Auf Spiegel Online beschreibt ein 16-Jähriger ziemlich eloquent und professionell (da sind Zweifel an seiner Autorschaft durchaus angebracht) seine angebliche Erfahrung mit der ersten selbst gekauften Zeitschrift – einem Magazin (Geo Wissen: Kapitalismus). Dass das Ganze schlicht ein Fake ist, ist auch möglich. Doch ich gehe mal darauf ein und schreibe diesen Artikel dem jungen Mann zu – schon, um das Folgende übersichtlich zu halten. Mögen andere sich der Frage der Authentizität widmen (z. B. in den aufschlussreichen Leserkommentaren). Der Vergleich „Internet vs. Print“ nämlich ist es eigentlich, der das Ganze interessant macht. Zeigt er doch die Kluft, die zwischen einem „Leser alter Schule“ (nicht altersabhängig; es gibt auch noch junge Leser, die zu einem Buch oder Magazin greifen) und einem sog. „digital native“ – der allerdings in diesem Fall auch „digital naive“ heißen könnte.

Vorab: Es ist nicht seine „Schuld“, diese verengte Sicht auf „Informationskonsum“. Seine Eltern haben offenbar auch schon versucht, ihm Druckerzeugnisse „schmackhaft“ zu machen. Doch vergeblich. Seine Quellen sind Internet, YouTube, „manchmal auch Fernsehen“ (erinnert das nicht sehr an Schröder, der meinte, zum Regieren genügten ihm BILD, BamS und die Glotze?) Er vermisst Hyperlinks, gegenteilige Meinungen, vertiefende Informationen. Was er nicht versteht, ist, dass ein längerer Text (ob Artikel oder Kapitel in einem Buch, ist hier zweitrangig) nicht bloß Informationen liefert, sondern einem Aufbau folgt. Nicht nur bloßes Faktenwissen, sondern Hintergründe, Analysen, dass ein Print-Text ganz anders funktioniert als ein Wikipedia-Artikel. Klar, solche Texte gibt es wohl auch im Internet, aber wer liest sie schon da? Er müsste sie erst einmal auch finden. Gegenteilige Meinungen sind natürlich wichtig, aber innerhalb eines Textes nur, weil sich der Autor mit ihnen argumentativ  auseinandersetzt, nicht einfach, weil es „geil“ ist, auch noch eine zweite Meinung zu haben und man sich für die „gefühlt schönste“ blind entscheiden kann. Die Fähigkeit, sich ohne Leitung eines andern seines eigenen Verstandes zu bedienen, nennt Kant als Kriterium eines aufgeklärten Menschen. Zu dessen Entwicklung gehört auch „Versuch und Irrtum“, gehört es, erst einmal einen Standpunkt zu entwickeln und einzunehmen, von dem aus man dann alles Weitere zu verstehen versucht. Spätere Änderung des Standpunkts nicht ausgeschlossen, nicht aus einer Laune heraus, sondern mit Gründen. Das dauert natürlich und ist was anderes als das angeblich sofort zur Verfügung stehende, abrufbare Instantwissen, mit dem man bestenfalls in Shows wie „Wer wird Millionär“ reüssieren kann.

Hinter einem Magazin mit einem Titelthema, hinter einem Buch mit einer Problemstellung, aber auch einer Erzählung (in welcher Form auch immer), einer „Story“ steckt (hoffentlich) ein Konzept, eine Linie, die der Autor/die Autorin verfolgt. Ich bin durchaus darüber froh, heute in den Tiefen des WWW dank potenter Suchmaschinen innerhalb kürzester Zeit an Informationen zu kommen, die ich früher mühsam in Lexika, Enzyklopädien, den Karteikästen der Bibliotheken, in Literatur- und Stichwortverzeichnissen von Sekundärliteratur usw. hätte suchen müssen, wenn ich überhaupt auf sie gestoßen wäre. Dennoch bleibt die Kernkompetenz, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden zu können, Textverständnis zu schulen – auch und gerade an längeren Texten. Und – ja überhaupt zu wissen, was man sucht und iwssen will. Und somit ist es auch eine Sache der Konzentration auf ein Thema.

Übrigens eine Aufgabe der Schule, Lesekompetenz zu entwickeln. Wie sollen junge Menschen sonst lernen, sich nicht ein X für ein U vormachen zu lassen, Information von Manipulation zu unterscheiden usw.? Und: Ist es wirklich zu viel verlangt, einen Text zu lesen, der über zwei, drei Seiten hinausgeht – und dem Gedankengang eines Autors zu folgen? Diese Struktur (Text) zu verstehen, Argumentationen folgen zu können – und sie dann auch infrage stellen zu können -, nicht bloßer Informationskonsum: Das ist der Sinn eines längeren Textes, der schon allein um der Übersichtlichkeit willen keine Querverweise auf andere Themen mitten im Text bringt (von der technischen Unmöglichkeit bei Print mal abgesehen).

Und genau das: den Sinn hinter einem längeren Text zu entdecken, den Zusammenhang der Fakten zu verstehen  – das ist es, was Bildung von bloßem Wissen unterscheidet. Nicht, dass ein umfassendes Wissen obsolet wäre – aber viel wichtiger ist, die Spreu vom Weizen trennen zu können, nicht von „Hölzchen auf Stöckchen“ zu kommen. Textverständnis zu entwickeln, das, was man „Hermeneutik“ nennt, beherrschen zu lernen, das ist Bildung bzw deren unabdingbarer Bestandteil. Denn was nützen Berge von Faktenwissen, wie man wie der sprichwörtliche „Ochs“ davor steht, ohne etwas zu begreifen? Und genau darin liegt die fatale Verführung der digitalen Wissensflut. Man läuft Gefahr, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen, und zu vergessen, dass, wie Aristoteles schon feststellte, das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Es ist wie beim Kochen: Eine Menge an Zutaten ergibt ohne Rezept noch kein schmackhaftes Gericht, und von einem bloßen Berg an Faktenwissen, das man einfach nur in seinem Hirn speichert, bleibt, wie bei einem Teebeutel, den man nur in heißes Wasser hängt, nachher nicht mehr als ein lauer Aufguss zurück. Das Ergebnis ist in beiden Fällen selten genießbar.

 

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(c) Johannes Bucej 2023